Bomben und Nachbarn

(Auszug)
 

 Nachts um drei Uhr, morgens um fünf. Die Sirene vom Fliegeralarm hörte ich immer sofort. Ich lag dann im herrlich warmen Bett bis zur Nase zugedeckt, machte mich mit ausgestreckten Beinen ganz lang, fühlte die wohlige Wärme und hoffte, dass keiner außer mir das auf- und abschwellende Heulen hören würde. Und jedes Mal trog diese Hoffnung. Die Tür wurde aufgerissen, das Licht schnellte an und meine Mutter zog meinem Bruder und mir rücksichtslos die Decke vom Körper. Etwas, was sie niemals sonst beim normalen Wecken tat. „Schnell, aufstehen, anziehen, Alarm!"

 

Unser Keller war nicht splittersicher. Wir mussten daher über die Straße in den Keller unserer Nachbarin Frau Kahle laufen. So klein mein Bruder und ich waren, wir waren für diese Bombennächte gut dressiert. raus aus dem Bett, Strümpfe über, Pullover an, Hose an, Mantel überwerfen, das Notbündel raffen, das für jeden von uns neben dem Bett stand, Schuhe anziehen. Meine Mutter machte in der Hast Knoten statt Schleifen und los, los. Die Kälte ließ meine Zähne aufeinanderschlagen, aber die nötigen Griffe zum Pullover, zum Bündel schaffte ich trotzdem in größter Eile. Bruder Klaus aber schlief immer wieder ein, schon im Sitzen auf dem Bett, wenn er sich den Pullover überziehen sollte. Dann auf dem Stuhl, wenn er die Schuhe greifen musste. Er verharrte in vornübergesackter Haltung und schlief mit gesenktem Kopf weiter. Aber er wurde gestoßen und aufgerissen, musste gleichfalls sein Bündel packen und taumelte neben meiner Mutter her. Ich griff mir noch rasch meinen Teddybären und wir hasteten über die dunkle Straße. In der Stadt war es totenstill.

 

Frau Kahle stand in der offenen Tür und wartete auf alle, die da kommen sollten. Wie immer hatte sie eine Bonbondose in der Hand und schüttelte sie wie auf dem Jahrmarkt, dass es lustig schepperte. Wir liebten sie deshalb. Sie war eine kleine gedrungene Frau mit tiefschwarzen Haaren, die sie zu einem gewaltigen deutschen Knoten über dem Nacken gewunden hatte. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht hat, aber auch in solchen Momenten sah sie aus, als sei sie gerade vom Frisör gekommen. Kein Härchen stand aus dem Knoten hervor, glatt und gleichmäßig lagen sie am Kopf. Der Mittelscheitel war stets wie mit einem Lineal gezogen. Sie lachte breit, machte eine einladende Bewegung zur Kellertreppe. Nun schüttelte sie erneut die Bonbondose und fragte: „Ja, was haben wir denn da für diese Nacht?" Jetzt wurde selbst Klaus richtig wach und lachte auch. In der ersten Zeit, als noch sehr wenig Bomben fielen, bekamen wir für jeden Einschlag, den wir hörten, einen Bonbon. Später kam Frau Kahle mit ihrem Kontingent nicht mehr gegen die Bomben an, und die Gaben wurden für jeden Alarm und jede Entwarnung verteilt. Doch in den letzten Kriegsmonaten musste sie trotz der Sparmaßnahme etliche Bonbons austeilen. Manchmal kamen die Angriffe dreimal pro Nacht, immer häufiger auch am Tag. Im Keller saßen schon die anderen Nachbarn, die gleichfalls keinen eigenen Bunker hatten: Der alte Herr von Plotho, dem kein einziges Haar auf dem Kopf geblieben war und dessen glänzender Schädel uns immer faszinierte. Er war so blank, dass Klaus einmal zum Entsetzen meiner Mutter seine Hand ganz flach darüber hielt und langsam hin und herbewegte. Er wollte sehen, ob sie sich auf der glänzenden Haut spiegelt. Herr von Plotho hatte viele lustige Fältchen um die Augen und schnitt uns immer Fratzen, wenn wir kamen. Ich durfte mich auf einen kleinen Hocker zwischen seine Beine setzen. Dann beugte er sich zu mir herunter, nestelte die Knoten an meinen Schuhen auf und versuchte erfolglos, mir das Schleifenbinden beizubringen. Frau Stenzel war da, die keiner mochte und die wir Kinder hassten. Wann immer wir auf der Straße spielten, kam sie laut schimpfend aus ihrem Garten zur Pforte gelaufen und scheuchte uns mit bösen Worten davon. Sie hatte feuerrotes Haar und eiskalte blaue Augen, ihre Hände waren hager und voller Sommersprossen. Besonders abgestoßen hat uns immer ihre schneeweiße Gesichtsfarbe. Wenn meine Mutter im Keller zur Zigarette griff, zischte sie: „Eine deutsche Frau raucht nicht." Meine Mutter steckte dann verschüchtert die Zigarette wieder weg. Ich überlegte ernsthaft, ob meine Mutter wohl eine deutsche Frau sei, weil sie doch bei uns zu Hause rauchte. Frau Stenzel meinte auch, wenn Frau Kahle zur Bonbondose griff, Kinder würden zu sehr verwöhnt, geradezu verweichlicht, und wir wussten, das galt uns.

 

Jeder von uns hatte einen festen, zugewiesenen Platz. Neben meiner Mutter saß Bruder Klaus auf einem Stühlchen und schlief schon wieder. Dann kamen Herr von Plotho und ich, Frau Meinhard, von der ich nur weiß, dass sie immer ein hochrotes Gesicht hatte und ständig ihren kleinen runden Kamm neu in die Haare steckte..........