Hunger

(Auszug)

 

Nein, wir Kinder in der Markgrafenstraße Nr. 5 kannten keinen Hunger. Das verhinderte Tante Hedwig mit ihren Künsten. Mein Vater sagte immer: „Die hat ein Huhn, kocht damit für drei Tage Brühe, für zwei Tage Frikassee, die Federn kommen ins Kopfkissen, die Gedärme werden als Kompost auf unsere Beete gepackt und die Knochen verkauft sie noch als Brennholz." Wie viele andere in unserer Stadt erlebten wir statt des Hungers die einseitige Ernährung. So waren manchmal nur Kartoffeln vorhanden und zum Beispiel etwas Buttermilch. Das daraus resultierende Gericht hieß Milchkartoffeln: Da schwammen die gepellten Erdäpfel in der sauren Suppe, fein in Scheiben geschnitten und mit einer geriebenen, rohen Kartoffel in Ermangelung von Mehl sämig gemacht. Nun ja. Gekochte Kartoffeln mit etwas Maggibrühe hießen „Bouillon-Potatos". Wir nannten sie so, seitdem ein Ami bei uns einmal eingeladen war und dieses Gericht einfach „fantastic" gefunden hatte. Auch konnte man rohe Kartoffeln in flache Scheiben schneiden und im Ofen backen. Das war dann Knäckebrot und schmeckte gar nicht so übel. Nicht zu vergessen sind die „Coffee-Potatos", die den erwähnten Ami zu solchen Begeisterungsstürmen hinrissen, dass meine Mutter ihm das Rezept in den Brief an seine Familie zu Hause in den USA diktieren musste: Da sowohl Salz als auch Fett wieder einmal nicht zu kaufen waren, bestäubte Tante Hedwig die Pellkartoffelscheiben mit etwas Ersatzkaffee, genannt Muckefuck. Ständig musste man die braungepuderten Scheiben in der Pfanne hin- und herrühren, damit der sich auflösende Muckefuck nicht anbrannte. Er brannte aber trotzdem immer etwas an, und genau das machte für den Amerikaner den hinreißend würzigen Geschmack aus. Ich weiß nicht, vielleicht hat er aber auch die Spankartoffeln so überschwänglich gelobt. Ein halber Teelöffel geräucherter Buchenspäne zwischen Bratkartoffeln gerührt und gleichfalls etwas angebrannt, vermittelte uns durch den Geschmack die Illusion, es gäbe Bratkartoffeln mit durchwachsenem Speck.
 

Selten bestand die Möglichkeit, dass man an einem Tag verschiedene Dinge einkaufen konnte, ganz zu schweigen von den Lebensmitteln, die fast nie zu bekommen waren: Zucker zum Beispiel. Auch wenn man die Lebensmittelkarten und damit verbunden die Berechtigung auf insgesamt vier Pfund Zucker pro Person und Monat besaß, bedeutete das noch lange nicht, dass man auch Zucker erhielt. Als Ersatz Kunsthonig vielleicht oder Sirup. Diese Ersatzstoffe wurden dann auf den Zuckeranteil angerechnet. Aber häufig gab es auch das nicht. Fast immer aber war Heißgetränk zu kaufen: Eine rote, leicht zuckerige Plörre, die mit viel Einbildungskraft entfernt nach Himbeeraroma schmeckte. Mit dem Heißgetränk wurde alles gesüßt, was man sich denken konnte: es kam über die Hafergrütze als Saft, in den Tee als Kandis, in den Griesbrei für die Kinder als Zucker. Salzig war hingegen die Wurstsuppe, die man etwa einmal pro Monat beim Schlachter kaufen konnte, ohne Fettmarken dafür opfern zu müssen. Es war die Brühe, in der man die Würste - die wir übrigens nie zu sehen bekamen - gekocht hatte. Sie schmeckte fast wie Bouillon, und wir jubelten, wenn drei oder vier Fettaugen auf der wässerigen Flüssigkeit schwammen.

 

Als Stopfnahrung gab es zunächst reichlich Grütze: Buchweizengrütze, Hafergrütze, Gerstengrütze, seltener Roggengrütze, aber immer nur Grütze auf dem Teller mit etwas Wurstbrühe, manchmal Heißgetränk, meistens aber einfach nur mit einer Prise Salz. Wir kauten noch einmal aufgebackene Grützenfladen als Brotersatz, bekamen Grütze rund geformt als Kloß und viereckig gewürfelt als Grützgulasch. Mit dem Ende des Krieges war es offensichtlich auch vorbei mit den Grützelieferungen. Nun aßen wir dank der Amerikaner und Schweden Mais. Es gab Maisbrot, Maismehl, Maisgries, Maisbrei, Maiskörnchen mit etwas Öl darüber, Maispuddingpulver, Maiskuchen und sonst gar nichts. Natürlich haben wir Kinder darüber gejammert und selbstverständlich wurde uns genau dies streng verboten. Der Maiszeit folgte die Steckrübenära. Steckrüben roh als Schulbrot, Steckrübensuppe, Steckrübengemüse, Steckrüben als geschnetzelte Rohkost, Steckrüben mit Hühnerhaut, in Hühnerbrühe, Steckrüben auf einem Stück Speckschwarte. Kurz: Steckrüben satt. Wie gut dies fadgelbe Gemüse gewesen war, merkten wir erst, als weder Grütze, Mais noch Steckrüben vorhanden waren. Natürlich auch keine Kartoffeln, kein Brot. Es war überhaupt nichts mehr vorhanden außer Nougat. Es stand als kiloschwerer dunkler Block im Keller und war uns von einem Tommie geschenkt worden. Morgens zum Frühstück gab es zur Freude von uns Kindern zum ersten Mal eine dicke Scheibe Nougat. In die Schule bekamen wir auch noch ein Stück mit. Mittags gab es wieder einen anständigen Kanten Nougat für jeden. Ich, die ich sonst versessen war auf alles Süße, spürte bald Ekel in der Kehle, wenn ich nur an den Nougatblock im Keller dachte. Abends würgte ich Nougat gegen den Hunger in mich hinein. Am nächsten Morgen stieß ich schon im Gedanken an die süße Pampe auf, aber es half nichts: entweder Nougat oder Hunger. Der braune Sand draußen im Garten erinnerte mich an das Nougat, die dunklen Stiefel von Bruder Klaus. Erst wenn mir schlecht vor Hunger war, schnitt auch ich mir im Keller ein Scheibchen ab. Man musste den Block längst nicht mehr vor uns Kindern verschließen, keines vergriff sich freiwillig daran. Fünf Tage lang haben wir morgens, mittags und abends Nougat gegessen, aber gehungert haben wir nicht.

 

Was wirklicher Hunger ist, erfuhr ich draußen auf der Straße. Helmut, ein Flüchtlingsjunge, mit dem wir viel spielten, wurde plötzlich ganz gelb im Gesicht. Er hielt sich am Pfosten des Gartenzaunes fest und musste sich übergeben. Aber es kam nichts, nur Spucke. Er stand da und würgte. Sein Bruder riss ihn vom Zaun zurück und schnauzte: „Wenn du kotzt, wird es auch nicht besser." Helmut hatte seit zwei Tagen nichts gegessen. Sie hatten zu Hause einfach nichts, absolut nichts. Kein Brot, keinen Mais, keine Steckrübe, keinen Zucker. Vorgestern hatten sie noch Mehl gehabt. Das hatte die Mutter mit warmen Wasser verrührt und verkündet: „So, das ist das Letzte!" Der Vater hatte noch hinzugefügt: „Und wenn ich einen von euch beim Stehlen erwische, schlag ich ihn tot."

 

Vetter Karl versicherte mir, dass alle Menschen vierzehn Tage lang ohne Essen auskommen könnten, ohne zu sterben. Meine Mutter aber erlaubte, dass ich eine Tüte Mehl zu Helmuts Eltern bringe. Helmuts Mutter nahm das Mehl nicht an. Sie sah ängstlich auf den Vater, der stumm unser Gespräch verfolgte und finster auf mich mit meiner Tüte blickte. Wieder sah die Mutter auf den Vater: „Das ist sehr nett von euch, sag das deinen Eltern. Aber es ist nicht mehr nötig. Stell dir vor, gerade heute haben wir wieder etwas Geld bekommen". Helmuts Vater aber setzte sich plötzlich schwer auf den Küchenstuhl und fing an zu weinen, ganz leise und schluckend in sich hinein. Er hielt den Kopf gesenkt und saß regungslos, nur seine Schultern zuckten unaufhörlich. Ich hatte bis dahin noch nie einen erwachsenen Mann weinen sehen und lief erschrocken mit meiner Mehltüte aus dem Haus. Unterwegs holte mich Helmut ein. Er nahm die Tüte und flüsterte: „Ich gelb sie der Mutter, wenn der Vater fort ist."

 

Hunger war es auch, der die Offizierswitwe Schlieffen beim Schlangestehen vor einem Laden lautlos zusammensinken ließ. Man beugte sich über sie, fragte, was ihr denn fehle. „Etwas zu essen", antwortete sie leise. Hunger trieb meine Klassenkameradin Christa zum krankhaften Stehlen, und Hunger war es auch, der mich meinen Großvater als Menschen kennen lehrte....

 

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