Der Krieg ist aus

(Auszug)
 

Im Mai 1945 hat die eine Kirchenglocke, die noch in unserer kleinen Stadt vorhanden war, geläutet. Alle anderen waren eingeschmolzen worden oder durch Bomben zerstört. Ich dachte, es sei Sonntag, und ich stellte mich vor die Wohnung meiner Großeltern, weil ich betrachten wollte, wie sie zur Kirche gingen. Ich fand die kleine Prozession der schwarzgekleideten Kirchgänger meiner Familie immer so interessant, weil meine Großmutter dann den breiten schwarzen Damenhut mit dem kleinen Schleier aufsetzte und mein Großvater den dunklen Mantel mit dem riesigen Fuchsfellkragen trug. Wenn sie zur Kirche gingen, setzten sie ihre Schritte sehr langsam und feierlich.

 

Aber sie kamen nicht. In der Wohnung blieb es still. „Sie läuten, weil der Krieg aus ist", erklärte meine Mutter, als sie mich vor der Tür warten sah, und ging weiter. Mich packte Aufregung. Ich rannte durchs Haus, riss jede Zimmertür auf, rief immer nur: „Der Krieg ist aus!" „Schrei nicht so herum, das wissen wir doch", brummte Vetter Karl, den ich beim Anziehen gestört hatte und nun zum ersten Mal in Unterhosen sah. „Aber keine Bomben und Flieger mehr!" „Richtig", sagte er, „aber auch keine Hakenkreuze und keinen Hitlergruß, verstehst du, das dürft ihr nicht mehr machen, das ist jetzt streng verboten."

 

Die Erwachsenen schien das Kriegsende überhaupt nicht zu berühren. Marika ging pünktlich zur Schule, meine Mutter wischte im Wohnzimmer Staub, die Großeltern sagten, es sei noch nicht 16 Uhr, ich solle später kommen, und Tante Hedwig fluchte, weil im Garten die jungen Salatsetzlinge erfroren waren. Nur Bruder Klaus ließ sich von meiner Erregung anstecken. Wir rannten in die Stadt, weil wir sicher waren, dass dort alles in heller Freude sein müsste. Doch es war wie sonst auch. Die schwarzen Papprollos für die Verdunkelung hingen vor den Fenstern, der Schlachter Wilms fegte mit muffigem Gesicht vor seiner Ladentür. Er antwortete auf unsere Friedensbotschaft: „Scheiß drauf", und ging in seinen Laden zurück. Keiner machte Musik, nirgendwo standen Gruppen und jubelten. Überall hingen große Plakate mit dicken schwarzen Lettern. „Kapitulation" stand darauf. Den Rest konnte Klaus nicht lesen, es war zu klein gedruckt und die Zettel hingen zu hoch für uns.

 

Abends wurde uns noch einmal eingeschärft, wirklich kein Hakenkreuz mehr zu malen und die Spiele mit dem Hitlergruß zu lassen. Ich war wütend. Es hatte mich solche Mühe gekostet, das Hakenkreuzmalen zu lernen. Immer zeichnete ich die Balken zur falschen Seite oder zwei nach innen und zwei nach außen. Nun endlich konnte ich es, und jetzt war es verboten. Der Hitlergruß war für uns immer Anlass zum Streit gewesen. Klaus machte ihn so, wie die Hitlerjugend ihn machte: Geradestehen, beide Füße zusammensetzen, den Arm durchbiegen, schräg nach oben halten und keinen Finger krümmen. Ich hingegen hatte den Führer in der Wochenschau unseres Kinos gesehen und bestand auf seinem Gruß: den Oberarm am Körper lassen, den Unterarm ganz kurz hochnehmen, dann die Hand locker nach oben werfen und dabei ein ernstes Gesicht machen. Man durfte bei diesem wahren und echten Hitlergruß sogar gehen, die Front abschreiten zum Beispiel oder die Parteigenossen begrüßen.

 

Es gab aber keine Parteigenossen mehr, keine Hakenkreuze, keine Hitlergrüße und keine braunen Hemden. Das von Onkel Friedhelm, der aus Riga zu uns gekommen war, färbte meine Großmutter in unserer Zinkbadewanne grün.

Vetter Karl verbrannte im Garten Hitlers Buch „Mein Kampf". Es war sehr mühsam, denn es nieselte. Wir Kinder fanden das dumm, man hätte die vielen Seiten so gut als Klopapier benutzen können. Selbst Zeitungen waren knapp, und auf der Toilette im Keller hingen immer nur zurechtgeschnittene, zerknitterte Blätter aus braunem Packpapier. Sie waren so hart, dass sich das Papierbündel am Bindfaden breit auffächerte.

 

Klaus und ich saßen abends im Bett und riefen uns immer euphorischer die Schlagworte des Friedens zu: „Keine Bomben mehr!", „Keine Sirenen", „keine Verdunklung", „keine Trümmer", „keine Tiefflieger", „keine Lebensmittelkarten", „keine Flüchtlinge". „Es wird alles, alles besser", trompetete Klaus mit Stentorstimme.

 

Wirklich? Unser Jubel brach sich an der Reaktion der Erwachsenen. Tante Hedwig schluchzte in ihrer Bodenkammer um die Freiheit der Ukraine, wo sie geboren war. Sie hatte so darauf gehofft, das Hitler Stalin besiegen würde. Dann hätte der ganz bestimmt die Ukraine vom Joch des Kommunismus befreit. Onkel Friedhelm seufzte: „Nun ist alles aus", und war sehr niedergeschlagen. Selbst meine Mutter war nicht ein bisschen fröhlich sondern so wie immer.

 

„Kinder, genießt den Krieg, der Frieden wird schrecklich", hatte meine Großmutter oft gescherzt. Mich beschlich der Verdacht, dass dies kein Witz gewesen war.

 

 

 

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